John Cage 100

Kunsthalle Bielefeld
9. September 2012, 16 – 20.30 Uhr

Programm

16.00 Uhr Zitat-Einwürfe im Gesamtprogramm
Dr. Jürgen Conrady

Sonatas and Interludes für präpariertes Klavier (1946-48)
Jan Gerdes/Berlin

zufallen – Hommage an JC (2012)
Raumkomposition für 21 MusikerInnen in einer leeren Kunsthalle
von Willem Schulz / Uraufführung

Aria (1958)
Edith Murasov, Mezzosopran

17.30 Uhr PAUSE

18.00 Uhr Vortrag: Prof. Dr. Wulf Herzogenrath, Berlin
18.45 Uhr PAUSE

19.15 Uhr Winter Music für 3 Flügel (1958)
Jan Gerdes/Berlin, Deborah Rawlings/Münster, Cristian Niculescu/Berlin

The wonderful widow of eighteen springs (1942)
Anke Züllich-Lisken, Sopran, Deborah Rawlings, Klavier

20.00 Uhr Musicircus (1967) für Klang- und Geräuscherzeuger jeglicher Art
realisiert von 100 Mitwirkenden rund um die Kunsthalle

„Ich kann nicht verstehen, warum Menschen vor neuen Ideen Angst haben. Ich habe Angst vor den alten.“ John Cage

I. Sonatas and Interludes for prepared piano (1946-48)
Jan Gerdes, Klavier
Das Widmungskonzert zum 100. Geburtstag von John Cage beginnt mit einem Ausschnitt von 14 Stücken aus den Sonatas and Interludes, einem Zyklus für präpariertes Klavier, der 16 Sonatas und 4 Interludes umfasst und deren Ablauf symmetrisch gegliedert ist: auf 4 Sonatas folgt jeweils ein Interlude, die Mitte wird durch zwei Interludes unterstrichen. Dieser Zyklus, den Cage von Februar 1946 – März 1948 in New York City komponierte, gehört zu seinen anspruchvollsten und bedeutendsten Werken mit einem großen Spektrum von perkussiven Elementen, subtilen Klangwirkungen und Ausdrucksnuancen. Sonata meint hier nicht die klassische Sonatenform, sonder eher, in Anlehnung an Scarlatti, ein einsätziges kurzes ‚Klangstück’. Anders als in Cages späteren Werken wurde jede Note ausnotiert, die Präparation des Flügels ist genau vorgeschrieben und nimmt 2 Stunden in Anspruch: um die besonderen Effekte herzustellen werden kleine Objekte aus verschiedenen Arten von Metall, wie Schrauben, Bolzen und Muttern, oder Gummi und Plastik zwischen die Saiten eines Saitenchords eingeklemmt.
Ursprünglich war das Stück im Rahmen einer Inszenierung der afroamerikanischen Tänzerin Syvilla Fort für ein ganzes Schlagzeugensemble konzipiert worden; aus Platzmangel entwickelte Cage, aus der Not eine Tugend machend, die Version für ein präpariertes Klavier. Auf diese Weise vollzog sich der Wandel des Klaviers vom harmonischen Melodieträger zum Perkussionsinstrument ohne bestimmte Tonalität.
Man bezeichnete Cages präpariertes Klavier als Gamelan-Orchester für zwei Hände, Boulez fand es gar faszinierender als ein Dutzend Perkussionsinstrumente.

II. zufallen
Hommage an John Cage (2012)
Raumkomposition für 21 MusikerInnen in einer leeren Kunsthalle
von Willem Schulz/Uraufführung
21 MusikerInnen vernetzen klanglich 3 Stockwerke der Kunsthalle Bielefeld.
Linien und Punkte werden musikalisch und choreografisch in und durch die Architektur definiert. Während Cage in vielen seiner aleatorischen Konzepte den subjektiven Faktor zu eliminieren suchte, wird in „zufallen“ die Intuition des Einzelnen, die ihm zu-fallenden momentanen klanglichen Vorstellungen und körperlich-räumlichen Vorgänge in einen sich zufällig ergebenden Gesamtprozess mit einbezogen. Die auf diese Weise sich ausbreitenden Linien werden geschnitten durch den Zu-Fall von Hindernissen, die im Wege stehen, wie Wände, Objekte, Menschen. Die auf diese Weise entstehenden Punkte werden durch Drehen um die eigene Achse geladen bis sie sich akustisch in einer Klangskulptur entladen. Individuelle Wege ergeben ein Ganzes.

Mitwirkende
Stefan Kallmer Klarinette
Fanja Raum Sopran-Saxofon
Hans Wilhelm Specht Tenor-Saxofon
Andreas Kaling Tenor-Saxophon
Henning Schweichel Tenorhorn
Gabor Jakab Posaune
Paul Quistorp Posaune
Edith Murasov Gesang
Anke Züllich-Lisken Gesang
Michael Herrlich Gesang/Gitarre
Andrea Glüer-Brehmer Flöte
Joachim Raffel Akkordeon
Hartmut Koehler Violine
Monika Weigelt Violine
Maren Brieber Violine
Piotr Miloslawski Violine
Johanna Geith Viola
Merle Weigelt Viola
Tobias Schmidt-Detering Cello
Lorenz Brieber Cello

III. Aria (1958)
Edith Murasova, Mezzosopran
John Cage, in jungen Jahren ein Schüler Arnold Schönbergs, komponierte zunächst unter Verwendung fixierter rhythmischer Muster und Tonreihenfragmenten, vermied Tonwiederholungen und legte besonderen Wert auf den Ausdruckscharakter seiner Werke. 1939 – 1956 entwickelte er ein Verfahren, in dem konsequent durchgehaltene Rhythmen im proportionalen Verhältnis zur Struktur der Großform stehen.
1951 begann er den Zufall in sein Komponieren mit einzubeziehen: es gibt keine eindeutigen Festlegungen zwischen Instrument und Partitur mehr, stattdessen wird die Gestaltung musikalischer Parameter wie Tonhöhe, Dauer und Dynamik weitestgehend dem Interpreten überlassen. Cages Infragestellung des traditionellen Werkbegriffs löste eine lebhafte Diskussion in der Musikwelt aus. Das Geräusch und elektronisch erzeugte Klänge wurden als ebenbürtig ins musikalische Geschehen integriert.
Aria, for voice (any range) wurde 1958 von Cathy Berberian in Mailand uraufgeführt.
Man kann das Stück allein oder mit Instrumenten aufführen. Die graphische Notation in 8 Farben regt an, mit 10 verschiedenen Stimmen zu singen. Vom Sprechen bis zum dramatischen Gesang ist alles möglich. Die Raumaufteilung legt schnelle Tonfolgen und Pausen nahe, bei einer Gesamtdauer von etwa 10 Minuten. 15 schwarze Quadrate werden durch Geräusche aller Art, vom Zungenschnalzen oder Stampfen, bis zu maschinellen oder elektronischen Sounds, umgesetzt.. Der Text enthält Vokale und Wörter in 5 Sprachen:
Armenisch, Russisch, Italienisch, Französisch und Russisch.

VI. Prof. Dr.Wulf Herzogenrath
Festvortrag: John Cage als bildender Künstler – Einflüsse, Anregungen

VII. Wintermusic für 3 Flügel (1958)
Jan Gerdes, Deborah Rawlings, Cristian Niculescu – Flügel
Liegen bei den ebenfalls 1958 entstandenen Variations I nur noch 6 Transparente mit Linien und Punkten vor und somit ein nicht mehr zu überbietender Grad von Freiheit, (nicht einmal die Auswahl der Instrumente ist festgelegt ), so gibt es bei Wintermusic für 1-20 Klaviere eine für alle Spieler verbindliche Partitur mit festgelegten Tönhöhen in Einzeltönen und Tonclustern. Die Dynamik und Dauer der Töne wird von jedem Pianisten selbst bestimmt im Prozess des Hörens und der Interaktion mit den Mitspielern. Es findet eine Art Verlagerung von produktorientierter Musik zu prozeßorientierter Musik statt, in der den Musikern die Mitverantwortung an der Komposition in die Hände gelegt wird.
Man kann hier vom gelenkten Zufall sprechen, wobei keine Aufführung mit der vorausgegangenen identisch sein wird, sodass hier auf einer neuen Ebene das Prinzip des Unwiederholbaren wieder auftaucht.
Kommentierte noch Adorno in der Philosophie der neuen Musik das allzu Konstruierte der Zwölftonmusik: „Sie fesselt die Musik, indem sie sie befreit…Hat die Phantasie des Komponisten das Material dem konstruktiven Willen ganz gefügig gemacht, so lähmt das konstruktive Material die Phantasie“ Dass auf die Überorganisation der seriellen Musik die Aleatorik folgen musste, ist kein Geheimnis und zudem hat sich heute Pluralität und Gleichzeitigkeit einzelner Personalstile der jüngeren Komponistengeneration etabliert.
Cage hatte den Mut verkrustete Strukturen zu durchbrechen, die Phantasie hat er nicht gelähmt, sondern herausgefordert, ja selbst zu einem neuen Parameter im musikalischen Geschehen erklärt.

VII. The Wonderful Widow of Eighteen Springs (1942)
( James Joyce) für Singstimme und geschlossenes Klavier
Anke Züllich-Lisken, Sopran,
Deborah Rawlings, piano
In diesem lyrischen Gesangsstück bricht Cage mit der Tradition des konventionellen Klavierliedes, indem er die Rolle des Pianisten als Begleiter auf einen Rhythmus, der auf den Klavierdeckel geklopft wird, reduziert.

VIII. Musicircus (1967)
Dieses Stück besteht lediglich aus der Aufforderung, dass jeder seine eigene Musik, seine eigenen Sounds machen möge – was immer das sei. Geschehen lassen und Hören. In Bielefeld zu Ehren des Geburtstages: 100 Stimmen für John Cage! Alles ist gleichwertig, das Spektrum einer lebendigen Nachbarschaft, komprimiert und inszeniert mitten in der Stadt.

Cage schreibt 1979:
»Es werden Leute eingeladen, die willens sind, alle zugleich am gleichen Ort zur gleichen Zeit zu spielen . . . Sie werden nichts hören – sie werden alles hören . . .
Der Musicircus ist ein schwierig durchzuführendes Ereignis, weil z. B. ein Clavichord-Spieler geneigt ist aufzuhören, sobald eine Rock’n Roll-Band zu spielen beginnt.
Aber wenn sich Leute finden, die da weiterspielen, hat man es geschafft . . .
Was man braucht, ist Hingabe. Dann wird jemand, der mitmacht, nicht den Druck eines einzelnen Egos spüren . . . und diese Erfahrung ist euphorisch.«

Mitwirkende Musicircus
Patrick WEH Weiland, Angelika Höger, Haggety, Henning Schweichel, Helga Hennes, Hartmut Koehler, Joachim Raffel, Andreas Kaling, Susanne Albrecht, Elisabeth Brosterhus , Holger Sauer, Silvana Kreyer, Georg Krieger, Stefan Kallmer, Paul Quistorp, Uwe Hiltenkamp, Eric Pfennig, Nicolaus Meyer-Milberg, Jan Gerdes, Silvina Avila, Luise Krolzik , Hans Wilhelm Specht, Andrea Glüer-Brehmer, Monika Weigelt, Merle Weigelt, Maren Brieber, Lorenz Brieber, Ella Deppe, Galina Donnenfeld, Ella Spitanski, Heidi Bhatti-Küppers , Nalin Bhatti , Manuela Vogel , Benedikt Gellrich , Hannah Stulik, Julia Hauptmann, Thomas Küsters, Bernado Juni, Klaus und Uschi Pape , Jürgen Conrady, Tobias Schmidt-Detering, Klaus Bertagnolli, Ralf Filges, Juergen Rebig, Hans-Joachim Reichert, Ralf Foelling, Sabine Koch, Frauke Güllemann , Fanja Raum , Johanna Geith, Inga Petrosian, Dr. Steffen Schumacher, Alessa Nordmann, Carmen Burian, Peter Schnathorst, Eugenia Betancourt-Hein, Elke Werneburg, Felix Werneburg, Hermann Braun, Gerhard Behmenburg, Carsten Kittel, Frank Gleiche, Doro Köster, Anja Gorontzy, Doris Howse, Peter Ladkin, Inga Eisenblätter, Suzanne Austin, Cornelius Rauch, Friedrich Meschede, Werner Schermeier, Janne Grotehusmann, Lina Reichel, Andreas Gummersbach, Peter Niehoff, Michael Herrlich, Peyman Haghighi Pajouhe, Anke Züllich-Lisken, Stan Pete, Edith Murasova, Andreas H. Abel, Detlef Heubaum, Piotr Miloslawski, ……

„Ich handle nicht in Absichten, ich befasse mich mit Klängen.“ John Cage in Silence

Fotos: Maria Otte und Martin Brockhoff